Tibet Traverse 1999 – Everest Basislager
Unter größter Anstrengung rudere ich zwischen großen Steinen und Felsblöcken hin und her. Die Schotterpiste gleicht einem trockenen, steil ansteigenden Bachbett. Sie führt in Serpentinen über ein riesiges Geröllfeld. Die wenigen Jeeps die vorbeikommen sind noch einige Zeit lang zu sehen. Mit heulendem Motor kriechen sie Kurve für Kurve den Berghang hinauf. In über 5000 Meter Seehöhe fällt das Atmen schwer, des öfteren droht das Fahrrad samt Fahrer umzukippen. Kurze Pause, die Kräfte schwinden schnell. Aber Aufgeben kommt nicht in Frage. Zu groß ist der Wunsch, zu intensiv das Verlangen, das erträumte Ziel zu erreichen. 80 Kilometer und 2000 Höhenmeter stehen mir jedoch noch bevor. Es werden die anstrengendsten Radkilometer meines Lebens.
Ein paar Kilometer vom Friendship Highway entfernt, der Tibets Hauptstadt Lhasa mit Nepal verbindet, gelangt man im kleinem Ort Chay auf 4300 Metern ins Naturschutzgebiet rund um den tibetischen Teil des Mount Everest. Ein Schranken, ein paar Bauernhäuser, im Hintergrund steile, steinige Berghänge. Die Siedlung liegt gerade hinter mir, da sehe ich aus dem Augenwinkel einen kläffenden Hund auf mich zu rennen. Ich springe vom Rad, verschanze mich dahinter, brülle ihn an. Da der aber kein Wienerisch zu verstehen scheint, wechselt er mit bleckenden Zähnen die Straßenseite und versucht mich an der ungeschützten Seite anzugreifen. Mit aller Kraft wuchte ich das Rad wieder schützend vor mich. Ich bücke mich und werfe dem Köter einen Stein entgegen, erst dann ergreift er die Flucht. Mein Puls rast, ich atme einmal tief durch. Dann beginnt der lange Anstieg zum 5120 Meter hohen Pang La.
Das tibetische Wort „La“ bedeutet Pass, und das wiederum heißt für einen Radler stundenlanges pedaltreten hinauf in die atemberaubende Berglandschaft des Himalaja. Erst nach etlichen Kilometern wird mir klar, dass eine einkalkulierte Versorgungsmöglichkeit nicht mehr auftauchen wird. Umkehren kommt wegen der Distanz nicht mehr in Frage. Die Vorräte sind fast aufgebraucht. 30 Kilometer und 1100 Höhenmeter bis zum nächsten Ort. Und das passiert mir nach fast drei Monaten „on the road“ im Land der Tibeter.Englisch:
Before going to sleep I glance yet again at the star filled sky: thousands upon thousands of stars are visible in the thin atmosphere at 4,200 metres. However, the world´s highest summit at 8,850 metres above sea level – the Tibetans call it the “goddess of the earth” has still not let itself be glimpsed. Snow covered mountains form a dark, impenetrable wall as if this mountain"s secret should remain hidden as long as possible...
Working desperately hard, I "flail" between huge stones and boulders. The gravel track resembles a dry streambed that rises steeply. It zigzags over an emormous area of scree. The small number of jeeps, which pass, can still be seen for some time over a long distance. Their engines screaming, they crawl up the mountainside bend after bend.
Ärgerlich! Also Bachwasser durch den Keramikfilter pumpen, die letzten Vorräte plündern. Satt wird man davon nicht. So wird die Auffahrt auf den Pass noch beschwerlicher als ich es ohnedies erwartet habe. Dünne Luft, schweres Gepäck und holprige Piste machen zu schaffen. Auf der Passhöhe angekommen ist die Stimmung jedoch kaum zu beschreiben.
Ein Meer an bunten wehenden Gebetsfahnen, grandiose Aussicht auf die Unendlichkeit des Himalaja lassen alle Anstrengungen schnell vergessen. Bei klarem Wetter gibt es einen tollen Ausblick auf die 8000er Kette: Cho Oyu, Lhotse, Gyachung, Everest. Erst am Abend erreiche ich den nächsten Ort tief unten im Tal. Bergab geht es nicht viel flotter, das Rad wird auf Schrittgeschwindigkeit gehalten bis die Felgen glühen und die Hände vom andauernden Bremsen schmerzen. Vor dem Schlafengehen ein Blick vom Dach des Quartiers: sternenklarer Himmel, in der dünnen Atmosphäre auf 4200 Metern sind Millionen Sterne zu sehen. Der höchste Gipfel der Welt (8850 m) hat sich aber immer noch nicht blicken lassen. Schneebedeckte Berge bilden eine dunkle, undurchdringliche Mauer, so als sollte das Geheimnis dieses Berges so lange wie möglich nicht preisgegeben werden.
Bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel geht es am nächsten Tag vorerst ein flaches Tal hinauf. Der Weg quert Geröllfelder und Sandwüsten und wird von Bächen und Wasserläufen immer wieder unterbrochen. In diesen Situationen heißt es dann runter vom Rad, waten und schieben. Im ersten und gleichzeitig letzten Ort vor dem Base Camp sind drei Männer eifrig bemüht, ihren Landcruiser wieder flott zu machen. Die Steinpiste fordert eben ihren Tribut. Mein Drahtesel hat aber bis jetzt alles bestens überstanden.
Das Tal führt nun wieder steil hinauf. Hinter jeder Kehre werden immer schroffere und höhere Berge sichtbar. Weit kann es jetzt wohl nicht mehr sein. Noch eine letzte Pause. Drei Packungen chinesische Instantnudeln, wohl oder übel ein Grundnahrungsmittel für Radreisende am Dach der Welt, werden verzehrt. Ein Yak-hütender Hirte, der mir während der Rast einen Besuch abstattet, versichert, gleich hinter dem Berghang am Ziel zu sein. In Anbetracht des Straßenzustandes und des steten Anstiegs also in allerhöchstens 30 Minuten, denke ich. Dann wäre ich beim Rongbuk Kloster, dem angeblich höchstgelegenen Kloster der Welt am Fuße des Qomolangma - Göttin der Erde - wie die Tibeter den höchsten Berg der Welt ehrfurchtsvoll nennen. Ungeduldig breche ich auf.
Ich habe Angst, den Everest nur in Wolken verhüllt zu sehen, wie es viele Reisende, die ich unterwegs getroffen habe, erleben mussten. Der Weg scheint kein Ende zu nehmen. Der Straßenzustand wird immer schlechter und die Kräfte lassen mehr und mehr nach. Ich sehe einen Gipfel, das muss er doch sein, der Berg meiner Träume! Noch ungeduldiger trete ich in die Pedale. Ein kurzes Stück begleitet mich eine Schar von Mönchen. Trotz ihrer schweren Last, die sie zum Kloster schaffen, helfen sie mir beim Rad-schieben. Ihr fröhlicher Gesang scheint sie von ihren Anstrengungen abzulenken. Nach zwei Stunden Quälerei stehe ich schließlich vor den Toren des Klosters auf 5100 Meter Seehöhe. Ich hebe meine Augen und bin überwältigt: der mächtigste Berg der Welt zeigt sich mir in seiner ganzen Schönheit. Der Gletscher, die imposante Nordwand und der eisgepanzerte Gipfel sind nun tatsächlich vor meinen Augen. Es ist Wirklichkeit, ich habe es mit eigener Kraft geschafft. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfasst mich, ein Gefühl, das mit keinem Geld der Welt zu erkaufen ist.
Am nächsten Morgen sind Zelt und Rad mit einer Eisschicht überzogen. Das Tal des Klosters liegt noch ganz im Dunkeln. Der höchste Berg der Welt jedoch erstrahlt bereits im ersten Sonnenlicht. Die tiefstehende Sonne zeichnet deutliche Konturen auf die Nordseite des Bergmassivs. Mit zunehmendem Tageslicht wird das Weiß des ewigen Eises immer strahlender, der blaue Himmel dahinter immer intensiver. Zusammen mit den grasenden Yaks, den Dächern des buddhistischen Klosters und den Gebetsfahnen im Vordergrund entsteht eine fantastische Kulisse.
Mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Trampern erreiche ich mittags das Everest Base Camp, ein paar Kilometer oberhalb des Klosters. Das Basislager besteht lediglich aus einem festen Quartier der Bergrettung, aus Zeltplätzen und einer steinernen Tafel mit dem schlichten Hinweis
"Mt. Qomolangma Base Camp 5200 meters". Kaum zu glauben dass hier zahlreiche große Expeditionen ihren Anfang nahmen. Wir treffen auf eine spanische Bergsteigertruppe, die sich gerade auf die Besteigung des Cho Oyu (8153 m) vorbereitet. Ihr Ausrüstungsmaterial ist mit einem LKW hierher transportiert worden, ein paar Tage bleiben sie im Lager um sich zu akklimatisieren, dann beginnt ihr beschwerlicher Aufstieg zum Gipfel. Von den freundlichen Köchen wird uns wärmender Tee serviert. Zu Fuß geht es dann weiter zum Rongbuk-Gletscher: Ein breites, gigantisches Eisband zieht sich kilometerlang ins Tal hinein. Beim Wandern werden mir die riesigen Dimensionen dieser Bergwelt noch deutlicher bewusst. Wir gehen einige Stunden, kommen aber dem Berg kaum näher. Auf 5400 Metern gibt´s Lunch vor einer spektakulären Kulisse, dann geht’s wieder zurück zum „Campingplatz“ beim Kloster.
Im einzigen „Gasthaus“ weit und breit sitzen abends die wenigen Traveller in der warmen Stube zusammen und berichten einander von den Erlebnissen und Abenteuern ihrer Reisen. Nach vielen Radkilometern in der Einsamkeit tut das sehr gut. Es werden Momos (gefüllte Teigtaschen), Eierreis und Chapatis (dünnes Fladenbrot) gegessen. Kalorien und Kohlehydrate sind wichtig. Schließlich geht es die nächsten zwei Tage dieselbe Strecke wieder retour.
Nachts krieche ich noch einmal aus dem Zelt. Die Nordwand des Everest liegt im zarten Licht unendlich vieler Sterne. Die „Göttin der Erde“ hat mich in ihren Bann gezogen.